Der Strich

Nur das Original gibt vollständige und zuverlässige Auskunft über die Eigenschaften des Strichs, wie die Dichte des Farbauftrags, die Tiefe der Schreibdruckrille, den Rhythmus des Schreibdruckwechsels, die Strichlagerung und -reihenfolge, Bewegungsstörungen, ...und dergleichen mehr.

"Der Strich ist als Bewegungsspur Indikator der psycho-physischen Verfassung eines Menschen...

... Der Strich ist die mit der Hand gezogene Linie im Kontext einer differenzierten grafischen Gestalt und dokumentiert mit Anfang, Ende und Strichlagerung, Reihenfolge und Ablauf einer Schöpfung. Er gibt im Rahmen graphologischer Deutung Aufschluss über so unterschiedliche Bereiche wie Emotion, charakterliches Niveau oder Farbempfinden, offenbart Symptome des Körpers, zeigt Kondition, Erschöpfung, Ruhe oder Erregung, Dynamik und Erschlaffen, Hemmung oder Lösung. Strichentgleisungen in Betrunkenenschriften dokumentieren minutiös den Verlust des Steuerungsvermögens der Hand. Eindringlich schlägt sich der Abbau der Gehirnzellen im Strich der Nüchternschriften schwerer Alkoholiker nieder: das Entzugszittern der Hand und der dramatisch zerbrechende Strich bei beginnender Demenz.

Die geübte Hand vermag einen zügigen, sicheren, eleganten, rhythmisch akzentuierten Strich zu hinterlassen. Die ungeübte formt oft einen schweren druckstarken, toten oder unsicheren Strich. Der druckstarke Strich kann indes von Vitalität, bildnerischem Talent und Kraft zeugen, in anderem Kontext aber auch von Brutalität, Hemmung, Fälschung oder Bluff. ... Im Rahmen der graphologischen Deutung muss der Strich immer im Kontext der Gesamtgestalt gesehen werden und ist nicht isoliert deutbar.

Auch ein für die Klärung von Straf- und Streitsachen bedeutsamer Nachweis von organisch bedingter Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit ist zuweilen aufgrund der Analyse des Strichs möglich. Zum Beispiel finden Erschöpfung, Senilität, Alkoholismus und Neurasthenie ihren Niederschlag oft in verschiedenen Varianten von Verzitterungen im Strich: Anders als das Zittern des Parkinsonkranken, das beim Andruck des Stiftes auf das Papier eher erstirbt, verstärkt sich das Zittern nach bloßer körperlicher Anstrengung häufig an Schriftstellen mit starkem Druck. Das Zittern der Altersschwachen zeigt sich oft in unsicheren, mehrfachen Strichansätzen mit feinen Haarlinien. Das Zittern des Neurasthenikers tritt zumeist unvermittelt im Wortinneren auf. Die körperliche Verfassung überträgt sich oft ganz direkt auf den Strich. Doch Vorsicht!, auch ein psychischer Zustand, wie beispielsweise jener der emotionalen Ergriffenheit kann zu einem Zittern der Hand führen." (Marianne Nürnberger: Ausschnitte aus einem Text für das Projekt "Hommage an den Strich" von Manuel Hartman 2004 in Zusammenarbeit mit der Kunstuniversität Linz, Abteilung für Experimentelle Visuelle Gestaltung; für diese Seite überarbeitet, gekürzt und neu ergänzt 2008)